Liebe Frau Sanyal, Sie werden den Deutschen Hebammenkongress 2025 mit einer Festrede eröffnen – darüber freuen wir uns sehr! Was motiviert Sie, bei uns zu sprechen?

M. Sanyal: Hebammen hatten einen wichtigen Einfluss auf mein Leben, am meisten natürlich in der Zeit, in der ich selbst Mutter geworden bin. Von meinen beiden Hebammen habe ich mich wirklich als Mensch wahrgenommen gefühlt. Sie haben mir große Geborgenheit und Sicherheit gegeben. Hebammenarbeit hat so viel Liebevolles – was im sonstigen Gesundheitssystem ja gänzlich fehlt. 

Meine Motivation hat persönliche, aber auch politische Gründe – weil ich eure Arbeit so wichtig finde. Ich wünsche mir, dass die Art, wie ihr arbeitet, mehr Eingang in den Umgang mit Menschen im Gesundheitssystem findet! 


Wo sehen Sie Schnittstellen zwischen Ihrer und unserer Arbeit? 

M. Sanyal: Mich beschäftigen aus kulturwissenschaftlicher Sicht Fragen wie: Wie sehen wir Menschen? Wie liebevoll gehen wir mit ihnen um? Ich veröffentliche ja auch viel zum Thema Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung und sobald wir in den Gesundheitsbereich gehen, gibst du deine Selbstbestimmung an der Tür ab. Was Hebammen tun, hebt sich eindeutig davon ab. Hebammenarbeit ist eine gelebte Utopie – sie ist der Beweis: Es geht! Ich bin ein absoluter Fan von Hebammen. 


Inwiefern ist Hebammenarbeit aus Ihrer Sicht denn auch politisch?

M. Sanyal: Ich bin den 80er Jahren feministisch politisiert worden, da ging es viel um Körperpolitik. Wie kann ich selbst herausfinden und wissen, was mit meinem Körper ist? Das ist in den Feminismen der folgenden Jahre leider weniger zentral geworden. Ich fände es gut, wenn das wieder einen größeren Anteil finden würde. Als ich das Vulva-Buch geschrieben habe, habe ich durch die Reaktionen gemerkt, wie groß die Sehnsucht und auch die Neugier ist, sich auseinanderzusetzen. 

Ich betrachte das in der Theorie in meiner Arbeit. Das direkte “Mit dem Körper arbeiten” machen andere, eben unter anderem ganz entscheidend die Hebammen. Ich kenne kaum vergleichbare Tätigkeiten von Frauen für Frauen, wo Leiblichkeit und Selbstbestimmung so unmittelbar Themen sind und eine Rolle spielen.


Sie nutzen den Begriff „Leiblichkeit“. Was genau verstehen Sie darunter

M.Sanyal: Wir haben alle Körper und wir sind unser Körper. Und der Körper ist ja sehr viel mehr als nur Fleisch und Blut und Knochen, er ist die Heimat meines Ichs, das was mich an dieses Leben bindet? Ich denke, wir unterschätzen oft, wie sehr  Körper und Geist sich gegenseitig beeinflussen – und zwar wechselseitig. Leiblichkeit bezieht sich auf diesen Gleichklang. 

Selbstbestimmtheit bezieht sich nicht nur auf geistige Leistungen, sondern ergibt sich auch aus meinen körperlichen Gegebenheiten. 

Nehmen wir das Beispiel Reproduktion. Hier geht es doch um viel mehr als um die Frage: Will ich ein Kind kriegen? Bei einer Schwangerschaft kommen so viele Themen zusammen! Diese Ganzheit von körperlichen und geistigen Themen erlebt man aus meiner Erfahrung in ganz besonderer Weise bei Schwangerschaft und Geburt – und die Hebamme ist DIE Person, die dies begleitet.
Ich blicke auf diesen Prozess aus meiner kulturwissenschaftlichen Sicht – die Hebamme arbeitet viel praktischer, ganzheitlicher. Das ist eine relevante, Frau-zentrierte Arbeit, bei der es um Körper UND Geist gleichermaßen geht! 


Das Thema Geschlechteridentität hat auch in den Hebammenalltag Einzug gehalten. Wie ordnen Sie die Diskussionen ein?

M.Sanyal: Mein Wunsch ist es, die Definition von Leiblichkeit so zu öffnen, dass jede*r sich willkommen fühlt. Man braucht so viel Schutz, wenn man ein Kind auf die Welt bringt. Das Leben wird oft so kompliziert, weil die Welt versucht, Menschen in Schubladen zu stecken. Wie zum Beispiel, dass die Person, die ein Kind gebiert die Mutter des Kindes sein muss. Aber inzwischen ist es eben manchmal der Vater. Das sind Situationen, in denen man Verständnis und Offenheit braucht und nicht Druck von außen, sich Gender oder anderen Konventionen zu beugen. 


Hebammen sind als Frauen für Frauen tätig, in einem oft sehr intimen Rahmen. Worin könnte die spezielle Rolle von Hebammen in einem feministischen Gesundheitsverständnis liegen?

M.Sanyal: Durch die Art unseres Gesundheitssystems wird auf die werdende Mutter ein großer Druck aufgebaut. Das ganze Thema ist sehr ideologisch aufgeladen. Was darf man, was darf man nicht? Es gibt in unserem System keinen Raum für Ambivalenzen. Das habe ich auch am eigenen Leib erfahren, als ich in einem Artikel in der „taz“ geschrieben hatte, dass ich meinen Sohn zu Hause geboren hatte. Menschen, die sich ansonsten feministisch äußerten, forderten auf sozialen Medien, mir sollte das Baby wegen Kindswohlgefährdung abgenommen werden. 

Ich war schockiert, wie schnell sich hier große Gräben auftun und wie viel Unversöhnlichkeit auf beiden Seiten herrscht. Wir brauchen dringend mehr Vertrauen – für mehr Selbstbestimmtheit. Wir brauchen mehr von der Art und Weise, wie Hebammen arbeiten und ihren Beruf verstehen, auch in anderen Bereichen! Hebammen sollten mehr Vorbild im Gesundheitsbereich sein! 

 

 

Das Interview führten Ulrike von Haldenwang und Karen Kunze für die Septemberausgabe 2024 des Hebammenforums. 

Mithu M. Sanyal / Copyright: CopyrCarolin Windel